Kommt bald die Super-Grippeimpfung?

Ein universelles Vakzin, das gegen alle Grippeviren wirkt, rückt in greifbare Nähe. Es könnte Millionen Menschenleben retten.

Zuerst erschienen im Beobachter, Februar 2022

 

Alle paar Jahre schickt uns ein Influenza-Virus mit Fieber, Kopf- und Gliederschmerzen ins Bett. Die meisten von uns erholen sich ohne Probleme. Doch bis zu 1500 Schweizerinnen und Schweizern pro Jahr bringt die Grippe den Tod.

Eine Impfung kann zwar schützen, aber sie tut dies nicht immer zuverlässig, und es braucht sie jeden Herbst aufs Neue. Das hat zwei Gründe: Zum einen lässt der Immunschutz durch Antikörper, ähnlich wie bei Sars-CoV-2, mit der Zeit nach. Zum anderen sind Grippeviren wahre Verwandlungskünstler.

«Etwa alle drei bis fünf Jahre gibt es Veränderungen innerhalb eines Virus-Subtyps», sagt die Virologin Silke Stertz vom Institut für Medizinische Virologie der Universität Zürich. Deswegen werde man gegen die Grippe nicht dauerhaft immun, sondern könne sich nach einigen Jahren mit dem gleichen Virus erneut infizieren.

Die Viren werden daher oft als «moving target», als sich ständig bewegende Zielscheibe, beschrieben. An welchem Ort sich diese Zielscheibe zur Grippesaison befinden wird, das versuchen Fachleute der Weltgesundheitsorganisation vorherzusagen. Jährlich im Februar geben sie anhand der auf der Südhalbkugel zirkulierenden Varianten eine Empfehlung für die Zusammensetzung des Grippeimpfstoffs ab, der ab Oktober auf der Nordhalbkugel verimpft wird. Er schützt gewöhnlich gegen Varianten von zwei Subtypen des Influenza-A-Virus, momentan H1N1 und H3N2, sowie gegen zwei Influenza-B-Viren.

Wirksamkeit variiert stark

Nicht immer erweist sich im Nachhinein der Blick in die Kristallkugel als richtig. Dann kann die Wirksamkeit der Impfung von 60 Prozent auf nur 10 Prozent fallen. In den Wintermonaten 2014/15 und 2016/17 waren die Grippewellen in der Schweiz besonders stark, was sich auch bei der Übersterblichkeit der über 65-Jährigen bemerkbar machte. «In beiden Fällen war das auf die geringere Effizienz des Impfstoffs zurückzuführen», sagt Stertz.

Forscherinnen und Forscher arbeiten daher an einem sogenannten universellen Grippeimpfstoff. Also an einer Munition, die das Ziel immer und zuverlässig trifft. Er soll gegen jegliche sich verändernden Virusvarianten schützen. Dabei gibt es zwei Arten von möglichen Veränderungen. Solche, die durch Mutationen im Erbgut entstehen und die Varianz der saisonalen Subtypen erklären. Und solche, die entstehen, wenn verschiedene Virus-Subtypen ihr Erbgut mischen und völlig neu zusammensetzen. Dabei könnten neuartige Grippeviren entstehen, gegen die es in der Bevölkerung keinerlei Immunität gibt. Sie könnten daher Pandemien auslösen, die weit mehr Opfer fordern als die saisonale Grippe.

Pandemiegefahr

Immer wieder betonen Experten, es sei nicht die Frage, ob, sondern wann eine neue Grippepandemie ausbreche. Seit der berüchtigten Spanischen Grippe von 1918, die zwischen 20 und 50 Millionen Menschen weltweit das Leben kostete, kam es auch 1957, 1968 und 2009 zu Grippepandemien. Gemäss Hochrechnungen würde eine Seuche wie jene aus den Jahren 1918 bis 1920 bei der heutigen Weltbevölkerungszahl rund 62 Millionen Menschen weltweit umbringen.

Eine Grippepandemie kann entstehen, weil Influenza-A-Viren nicht nur im Menschen, sondern auch in Tieren vorkommen. Vögel tragen zum Beispiel das Vogelgrippevirus H5N1 in sich. Für den Menschen ist es zwar oft tödlich, infiziert ihn aber nur selten.

Es kann aber passieren, dass ein Tier, zum Beispiel ein Schwein, gleichzeitig vom Vogelgrippevirus und von einem gewöhnlichen Grippevirus befallen wird. Innerhalb einer Schweinezelle können sich dann die Erbgutstückchen beider Viren mischen und neu zusammensetzen. So kann ein völlig neuer, tödlicher und an den Menschen angepasster Subtyp entstehen, der eine Pandemie auslösen kann.

Das Immunsystem austricksen

An einem universellen Impfstoff, der gegen alle Grippeviren gleich gut schützt, beissen sich Forschende aber schon seit Jahrzehnten die Zähne aus. Was ihnen Schwierigkeiten bereitet, ist ein Eiweiss namens Hämagglutinin, das Grippeviren auf ihrer Oberfläche tragen und für das auch das «H» im Namen der Subtypen steht. Es ist der Schlüssel des Virus, der in das Schloss menschlicher Körperzellen passt. Diesen Schlüssel verkleben die Antikörper nach einer Impfung und schalten so die Viren aus.

Hämagglutinin sieht aus wie ein Pilz, hat einen Stamm und einen Kopf. Während der Kopf der eigentliche Verwandlungskünstler ist und sich von Subtyp zu Subtyp stark unterscheidet, bleibt der Stamm mehr oder weniger unverändert. Antikörper, die den Stamm erkennen, würden eine ganze Reihe verschiedener Viren unschädlich machen.

Doch es gibt ein Problem, wie der Impfstoffexperte Florian Krammer erklärt: «Nach einer Impfung oder einer Infektion gibt es nur sehr, sehr wenige Antikörper gegen den Stamm. Das Immunsystem bildet lieber Antikörper gegen den Kopf.»

Krammer forscht an der Icahn School of Medicine at Mount Sinai in New York und hat sich einen Weg ausgedacht, um das Immunsystem auszutricksen. Er und sein Team haben sogenannte chimäre Hämagglutinine hergestellt. Chimären – so werden in der griechischen Mythologie Mischwesen aus verschiedenen Tieren genannt. Bei Krammer bezeichnen sie Mischformen des Hämagglutinins: mit einem Stamm, den das Immunsystem schon von den gängigen Grippeviren her kennt, und einem Kopf, der von einem nicht menschlichen Virus stammt und den das Immunsystem daher noch nie gesehen hat.

«Wenn der Kopf komplett neu ist, dann tut sich das Immunsystem schwer, diesen zu erkennen. Dann nimmt es lieber etwas, was es schon kennt, in dem Fall den Stamm, und entwickelt dagegen Immunität», sagt Krammer.

Dieses Prinzip haben die Forscher zuerst im Tierversuch und danach in einer klinischen Studie am Menschen getestet, deren Ergebnisse vor einem Jahr veröffentlicht wurden.

«Es ging darum, zu untersuchen, was immunologisch passiert und ob der Impfstoff sicher ist», so Krammer. Die Ergebnisse zeigen, dass die Studienteilnehmer selbst 420 Tage nach einer Impfung tatsächlich signifikant mehr Antikörper gegen den Stamm im Blut hatten als davor. Auch die Nebenwirkungen, die die Impfung verursachte, gaben den Forschenden keinen Anlass zur Sorge. Nun muss die Wirksamkeit gegen verschiedene zirkulierende Grippeviren in weiteren Studien getestet werden.

Impfstoff gegen Vogelgrippe

Ein anderes Forscherteam vom National Institute of Allergy and Infectious Diseases aus den USA hat eine weitere Möglichkeit gefunden, um das Immunsystem zu überlisten und es dazu zu bringen, Antikörper gegen den Hämagglutinin-Stamm zu bilden. Dabei wird der Kopf des Pilzes abgeschnitten und der kopflose Stamm an Nanopartikel gekoppelt. In Tierversuchen entdeckten die Forschenden, dass Mäuse und Frettchen nach so einer Impfung Antikörper gegen den Stamm des H1-Proteins entwickelten, das zum menschlichen Grippevirus H1N1 gehört. Wie gehofft, gaben diese Antikörper auch Immunschutz gegen ein völlig anderes Virus, nämlich das Vogelgrippevirus H5N1. Eine klinische Studie, die die Sicherheit eines solchen Impfstoffs im Menschen untersuchen soll, läuft gerade.

Inzwischen gibt es auch bei den Impfstoffen gegen die saisonale Grippe neue Entwicklungen. Untersucht werden Alternativen auf mRNA-Basis. Bei ihnen würden nicht die Hämagglutinin-Eiweisse der verschiedenen Subtypen verimpft, sondern nur der Bauplan dafür, die mRNA. Solche mRNA-Impfstoffe haben sich während der Corona-Pandemie als Überraschungskandidaten im weltweiten Impfstoffrennen entpuppt und könnten auch bei der Grippeimpfung Vorteile haben.

Für die herkömmlichen Impfstoffe müssen die Viren nämlich zuerst in befruchteten Hühnereiern angezogen und ihre Eiweisse aufgereinigt werden.

«Das erfordert Millionen von Eiern und dauert mehrere Monate», sagt der Immunologe Steve Pascolo, der am Universitätsspital Zürich mRNA-Impfstoffe erforscht. «Im Gegensatz dazu dauert die Herstellung synthetischer mRNA im pharmazeutischen Prozess nur eine Woche und ist vegan.»

Wenn die zirkulierenden Varianten der Subtypen von den erwarteten abweichen, könnte die mRNA-Technologie dazu beitragen, Grippeimpfstoffe besser und schneller anzupassen. «So könnten mRNA-Impfstoffe einen besseren Schutz vor der saisonalen Grippe bieten», sagt der Forscher. Bereits untersuchen die bekannten Firmen Moderna und Biontech/Pfizer Kandidaten in klinischen Studien. «Die ersten Daten sind vielversprechend», sagt Pascolo.

Besser gerüstet gegen Pandemien

Auch im Fall einer Pandemie wären solche Impfstoffe schneller parat. Doch besser wäre es, wenn dieser schon vorher existierte. Virologin Silke Stertz ist optimistisch: Die präklinischen und klinischen Daten zu Universalimpfstoffen mit kopflosem und chimärem Hämagglutinin sähen sehr gut aus. «Es ist wichtig, diese zwei verschiedenen Ansätze weiterzuverfolgen», sagt Stertz. In weiteren Studien muss nun die Wirksamkeit erst an Hunderten, dann an Tausenden Probanden evaluiert werden. «Ich bin zuversichtlich, dass der erste universelle Grippeimpfstoff in fünf bis zehn Jahren auf den Markt kommen wird», sagt die Virologin.