Die Letzten werden die Letzten sein

Anders als lange Zeit gedacht, hat die Reihenfolge der Geburt keinen Einfluss auf die Persönlichkeit eines Menschen, dafür aber auf Intelligenz und Bildung.

Zuerst erschienen in der NZZ am Sonntag am 11. April 2021.

 

Prinz Harry hat sich endgültig vom britischen Königshaus losgesagt. Mit seinem Oprah-Interview tauschte er Queen gegen Netflix und höfisches Protokoll gegen hemmungslose Plauderei. Im Vergleich zu seinem älteren Bruder William, dem Thronanwärter, ist Harry ein richtiger Rebell.

Die beiden Brüder verkörpern die alte Idee, dass sich die Reihenfolge der Geburt auf die Persönlichkeit eines Menschen auswirkt. Demnach sind Erstgeborene gewissenhaft, dominant, aber auch etwas ängstlich, während die Spätgeborenen neugierig, gesellig und impulsiv sind. Revolutionäre Denker und Entdecker wie Alexander von Humboldt, Charles Darwin oder Voltaire waren Spätgeborene. Doch inzwischen meldet die Forschung Zweifel an dieser Vorstellung an. Studien der letzten Jahre konnten keine Belege dafür finden, dass die Reihenfolge der Geburt tatsächlich bestimmt, ob wir besonders ängstlich, innovativ oder risikofreudig sind. Dafür bestätigt sich jetzt ein anderer Zusammenhang: Die Geburtenreihenfolge hat einen Einfluss auf Intelligenz und Bildung.

Dass sich der Mythos vom geborenen Rebellen über Jahrzehnte halten konnte, ist möglicherweise dem populären Buch «Born to Rebel» aus den 1990er Jahren geschuldet. Darin analysierte der US-Wissenschaftshistoriker Frank Sulloway die Biografien von fast 4000 Forschern und Denkern. Er untersuchte, wie sich diese zu Neuerungen – etwa der Evolutionstheorie oder der Französi-schen Revolution – verhielten, und setzte dies in Beziehung zu ihrer Position in der Geburtenreihenfolge. Spätgeborene seien den Erstgeborenen typischerweise ein halbes Jahrhundert voraus in ihrer Bereitschaft, radikale Innovationen zu unterstützen, so das plakative Fazit Sulloways.

Um seinen Befund zu begründen, übertrug der Historiker die Idee der ökologischen Nischen aus der Evolutionstheorie auf die Familie: Wird ein Kind geboren, be­setzt es innerhalb einer Familie bestimmte Nischen. Die Nächstgeborenen müssen deshalb besonders kreativ und erkundungsfreudig sein, um neue Nischen zu finden, in denen sie Merkmale ausbilden können, welche die Aufmerksamkeit der Eltern erregen und den Wettbewerb unter den Geschwistern verringern. Sie sind dann zum Beispiel besonders brav oder besonders witzig – so formen sich unterschiedliche ­Persönlichkeiten.

In den folgenden Jahren wurde diese Theorie immer wieder untersucht und teilweise bestätigt. Allerdings: Je grösser die Datensätze und je empfindlicher die statistischen Methoden wurden, desto weniger blieb von Sulloways Hypothese übrig. Eine Studie aus dem Jahr 2015 zum Beispiel beschäftigte sich mit 20000 Individuen aus den USA, Grossbritannien und Deutschland. Die Forscher verglichen die Persönlichkeit von Erstgeborenen und Spätgeborenen, indem sie die sogenannten «Big Five» der Persönlichkeitsmerkmale – Extraversion, Verträglichkeit, Gewissenhaftigkeit, Neuro­tizismus, Offenheit für neue Erfahrungen – anhand standardisierter Tests abfragten.

Es zeigte sich: Ob jemand das erste oder das letzte Kind einer Familie war, wirkte sich auf keines dieser Merkmale aus. Ein ähn­liches Resultat lieferte eine weitere Studie aus demselben Jahr mit 377000 Highschool-Schülern aus den USA. Eine Untersuchung aus Deutschland aus dem Jahr 2019 fand ausserdem keinen Effekt in Bezug auf das Risikoverhalten.

Komplexe Mischung

Stimmt das Modell von Sulloway also nicht? «Ich denke, seine Beschreibung der Familiendynamik, in der sich Geschwister verschiedene Nischen suchen, ist plausibel», sagt Ralph Hertwig vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin, der selbst Auswirkungen der Geburtenreihenfolge erforscht hat. «Allerdings nimmt Sulloway an, dass sich diese Dynamik in der Persönlichkeit verstetigt. Doch dafür findet die neuere Forschung keine Beweise.»

Es könne zwar sein, dass sich bestimmte Verhaltensweisen oder Seiten einer Persönlichkeit in der Familienkonstellation zeigten, so Hertwig. Aber das bedeute nicht, dass sie auch in anderen Lebenssituationen, etwa in der Wohngemeinschaft oder im Studium, hervorträten. «Persönlichkeit ist immer ein interaktives Zusammenspiel zwischen Um­welt und Verhaltensdispositionen», sagt Hertwig. «Aus diesem Zusammenspiel entsteht ein bestimmtes Verhalten, welches wir als Persönlichkeit wahrnehmen.»

Dass sich in früheren Studien Effekte auf die Persönlichkeit abbilden liessen, liegt wahrscheinlich an deren Aufbau und Methodik. So wurden zum Beispiel die Persönlichkeiten aller Zweitgeborenen angeschaut und mit jenen aller Erstgeborenen verglichen. Es sei aber entscheidend, so Hertwig, jeweils die Unterschiede zwischen Erst- und Zweitgeborenen innerhalb einer bestimmten Familie zu analysieren. Ausserdem waren die Datensätze früherer Studien im Vergleich zu heute viel kleiner. «Bei kleinen Stichproben besteht das Risiko eines Zufallsbefunds – oder dass man kleine Effekte übersieht», so Hertwig.

Es gibt allerdings tatsächlich Auswirkungen der Geburtenreihenfolge, die sich auch in den neuesten, grossen Studien belegen liessen: solche auf die Intelligenz und den Bildungsstand von Geschwistern. Demnach erfahren Erstgeborene mehr Bildung, und der Intelligenzquotient nimmt vom Erst- zum Spätgeborenen ab – mit jedem zusätzlichen Kind um ungefähr 1,5 IQ-Punkte. «Kinder mit vielen älteren Geschwistern haben im Schnitt einen niedrigeren Intelligenzquotienten», sagt Laura Botzet vom Georg-Elias-Müller-Institut für Psychologie der Universität Göttingen.

Eine Erklärung für diesen überraschenden Befund liefert das sogenannte Konfluenzmodell. Es besagt, dass die Familie eine intellektuelle Umgebung bildet. Für Erstgeborene ist diese Umgebung generell reifer. Das bedeutet, sie erfahren eine stärkere intellektuelle Stimulation durch die Eltern, zum Beispiel was die Sprache oder die kognitive Entwicklung angeht. Bei Spätgeborenen wird diese Umgebung stärker durch die noch unreifen Geschwister mitgeprägt.

Allerdings, so Botzet, sei der Effekt der Geburtenreihenfolge bisher vor allem in Studien aus westlichen Ländern wie Deutschland, den USA und Skandinavien nachge­wiesen worden. Als die Psychologin kürzlich in einer Studie die Situation in Indonesien untersuchte, fand sie jedenfalls keine Hinweise darauf, dass Erstgeborene einen höheren IQ oder einen besseren Bildungsstand hätten. Im Gegenteil: Erstgeborene gingen dort weniger lang zur Schule.

«Das kennt man auch von Studien aus anderen nichtwestlichen Ländern, etwa aus Bangladesh oder den Philippinen», erklärt Laura Botzet. «Möglicherweise müssen die Erstgeborenen ihren Eltern früh bei der Arbeit helfen. Deshalb sind es eher die Spätgeborenen, die mehr Bildung erfahren und länger zur Schule gehen können», erklärt sie sich ihren Befund. In Bezug auf das Risikoverhalten und die Persönlichkeit findet Botzets Untersuchung – wie die vorhergehenden neueren Studien – keinen Effekt.

Verzerrter Vergleich

Trotzdem ist die Vorstellung, dass sich die Reihenfolge der Geburt auf die Persönlichkeit von Geschwistern auswirkt, nicht kleinzukriegen. Auf den Websites von Online-Buchhändlern finden sich unzählige Werke zum Thema. Und kennen wir nicht alle Beispiele aus unserem Umfeld? Dass wir Effekte der Geburtenreihenfolge in unserem eigenen Leben sehen, obwohl sie sich nicht belegen lassen, hat verschiedene Gründe. So wirkt sich etwa das Entwicklungsalter auf die ­Persönlichkeit aus: Mit zunehmender Reife werden wir gewissenhafter. Vergleichen wir uns mit unseren Geschwistern, müssten wir den Altersunterschied herausrechnen. «Das gelingt uns aber nicht», sagt Botzet. Und deshalb stellen wir oft einen verzerrten Vergleich zu unseren Geschwistern an.

«Wir Menschen sind dazu angelegt, eher Belege zu suchen, die für unsere Annahmen sprechen statt gegen sie», sagt Laura Botzet. Es ist vielleicht ein bisschen wie mit den Sternzeichen. Erklärungen für das eigene Verhalten findet man in ihnen immer – wenn man weiss, was man will. Allein, ob eine zur Rebellin wird oder ausgetretene Wege be­schreitet, ob einer die britische Krone vor den Kopf stösst oder darauf wartet, sie sich aufzusetzen – zumindest das hat mit der ­Reihenfolge der Geburt nichts zu tun.